von Günther Gerstenberg
Wie aus Revolutionären Spinner und Verbrecher wurden
Die Diffamierung und Psychiatrisierung von Rebell*innen und Revolutionär*innen hat in Deutschland eine lange Tradition. Das bekamen insbesondere auch die Menschen zu spüren, die vor über 100 Jahren in München die Monarchie stürzten und den Krieg beendeten. Kaum bekannt ist, dass renommierte Psychiater die wesentlichen „Argumente“ für diese präfaschistische Aufstandsbekämpfungs-Propaganda lieferten und es bis heute keine kritische Auseinandersetzung der betroffenen Institutionen damit gibt. Umso verdienstvoller ist deshalb das neue Buch des Münchner Zeithistorikers, Autors und Ausstellungsmachers Günther Gerstenberg, der diesem Thema ein ganzes Kapitel in seinem neuen Buch „Räte in München. Anmerkungen zum Umsturz und zu den Räterepubliken 1918/19“ widmet (Infos zum gesamten Buch am Ende des Artikels). Sein Text ist zugleich ein Aufruf an die Archive der betroffenen Kliniken, Psychiatrien und Institutionen, endlich kritischen Forscher*innen Zugang zu den (hoffentlich) noch vorhandenen Unterlagen, Akten und Quellenmaterialien zu ermöglichen und sich mit ihrer eigenen Geschichte endlich kritisch auseinander zu setzen.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors druckt Weckerswelt das Kapitel „Auflehnung ist Wahnsinn – wie aus Revolutionären Spinner, Sittenstrolche und Verbrecher wurden“ aus seinem neuesten Buch „Räte in München“:
Auflehnung ist Wahnsinn
Fressen oder gefressen werden, lautet das Gesetz des Dschungels.
Definieren oder definiert werden, so lautet das Gesetz der Menschen.[1]
Leichenberge an den festgefahrenen Fronten des großen Völkerschlachtens, Desorganisation in der Heimat, überall Krüppel an Leib und Seele – gekrönte Häupter stehlen sich davon, Offiziere schlüpfen in Zivilkleidung. Der alte Sinn hat sich desavouiert, jetzt wird der gesellschaftliche Konsens aufgekündigt. Die Macht fällt Ende 1918 den Revolutionären wie ein reifer Apfel in den Schoß.
Den alten Eliten scheint es wirklich an den Kragen zu gehen. Nun müssen sie versuchen, die verlorene kulturelle Hegemonie zurückzugewinnen, um diese in reale Machtverhältnisse münden zu lassen, die ihnen taugen. Dies gelingt vor allem mit der Stiftung einer neuen Identität: Diese basiert auf Ab- und Ausgrenzung. Um eine scheinbar eigene Tradition und deren Ethik hervorzuheben, werden den außerhalb der neuen Identität Stehenden besondere Eigenschaften zugewiesen.
Der Fremde ist freilich absichtslos fremd, er kann nichts dafür und bleibt ein harmloser Einzelner. Die „Landfremden“ dagegen organisieren sich überindividuell. Sie erfüllen einen kriminellen Zweck. Ihnen muss man entgegentreten.
Die Fotografien, die die Münchner Polizeidirektion von inhaftierten Räterepublikanern anfertigen lässt, werden so arrangiert, dass der erwünschte „Verbrechertypus“ deutlich wird. Abgerissene Kleidung, ein Dreitagebart, ein kahlrasierter Schädel und die Ausleuchtung von Wulstlippen und Krummnasen lassen das Zerrbild zur Karikatur werden. Und wenn das alles nicht ausreicht, werden die Protagonisten psychiatrisiert.[2]
Ernst Toller: Revolutionär und Schriftsteller. Foto: Archiv der Münchner Arbeiterbewegung
Prof. Emil Kraepelin, der Chef der Psychiatrischen Klinik München, hat schon im Frühjahr 1918 die Protagonisten des Januarstreiks, Schriftsetzer Theobald Michler und Lorenz Winkler, Werkzeugschlosser bei BMW, auf ihre geistige Zurechnungsfähigkeit untersucht. Auch der Dichter Ernst Toller sollte in der Anstalt „behandelt“ werden; nach einige Tagen gelang ihm die Flucht.
In Zweifelsfällen geht eine psychiatrische Anamnese einem geplanten Strafprozess voraus. Der Paragraph 51 des Reichsstrafgesetzbuches ermöglicht, im Urteil von einer Strafe abzusehen oder sie zu mildern, „wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“[3] Richter erhalten dann für ihre Urteilsfindung Hinweise einer Psychiatrie, die selbst mit fragwürdigen Etikettierungen arbeitet.
Ein Assistent bei Kraepelin, Dr. Karl Weiler, meint: „Nur unter ganz bestimmten Bedingungen, die wirklich eine Geistesstörung oder eine Bewusstlosigkeit bedingen, kann für einen Psychopathen die Anwendung des § 51 RStGB in Betracht gezogen werden. Die Psychopathie ist keine krankhafte Störung der Geistestätigkeit nach der Begriffsfassung, die der Gesetzgeber der Auslegung des genannten Paragraphen zugrunde gelegt wissen will und muss.“[4] Später präzisiert Weiler, „dass der Gesetzgeber durch die Aufstellung des § 51 nur solche Menschen vor Strafe schützen wollte, deren gesetzwidrige Handlung als Folgeerscheinungen geistiger Erkrankungen aufzufassen sind, nicht aber auch geistig nur anormale Persönlichkeiten, die infolge ihrer seelischen Minderwertigkeiten Straftaten begehen.“[5]
Damit wird deutlich, dass der Paragraph auf die meisten Räterepublikaner, die nicht „geistig erkrankt“, sondern „seelisch minderwertig“ und von „ehrloser Gesinnung“ sind, nicht angewendet werden soll. Die Richter sehen das ein. Der Angeklagte wandert entweder in den Knast oder in die Irrenanstalt.
Eingesperrte Revolutionäre im Gefängnis Stadelheim in München – bewacht von Soldaten. Anfang Mai 1919, Foto: Fritz Kautz
Kraepelin selbst, der führende Mann der deutschen Psychiatrie und Mitbegründer der Vaterlandspartei, befürwortet „psychopathisch Entartete“ zu sterilisieren, um die Reproduktion ihrer „erblichen Minderwertigkeit“ zu unterbrechen, und schreibt 1919 kurz nach dem Einmarsch der „weißen“ Soldateska:
Es ist wohl endlich kein Zufall, dass an der Spitze von Massenbewegungen nicht selten Persönlichkeiten mit ausgeprägten hysterischen Zügen stehen. Die mangelhafte Entwicklung des zielbewussten Willens, die der hysterischen Veranlagung zugrunde liegt, kann sich mit ausgezeichneter Verstandesbegabung und namentlich mit Lebhaftigkeit der gemütlichen Regungen verbinden, die unter Umständen eine besondere Fähigkeit in sich schließt, sich der Umgebung anzupassen, sie zu verstehen, auf sie zu wirken und sie zu beherrschen. Man wird dabei immer mit vorwiegend gefühlsmäßig geleitetem Handeln zu rechnen haben. Aber auch sonst sind unter den Führern der jetzigen wie früherer Umwälzungen in überraschender Zahl Menschen vertreten, die nach irgend einer Richtung hin aus dem Rahmen der Durchschnittsbreite herausfallen. Unter ihnen sind vielleicht die harmlosesten jene Schwärmer und Dichter, die sich ein Weltbild eigener Erfindung entworfen haben und es zu verwirklichen suchen, ohne zu bedenken, dass die Welt eng und das Gehirn weit ist. Eine zweite Gruppe bilden die Vielgeschäftigen, deren Seelenzustand zumeist dem manisch-depressiven Irresein angehört; sie pflegen in ihrem hemmungslosen Betätigungdrange immer neue Pläne in Angriff zu nehmen, ohne die Möglichkeit ihrer Verwirklichung zu prüfen und die unerlässlichen Vorbereitungen zu treffen. Darf man diesen Gruppen zugestehen, dass sie sich von bestimmten Überzeugungen leiten lassen und allgemeine Ziele, wenn auch oft verschwommener und unerreichbarer Art, verfolgen, so bildet ihre Gefolgschaft regelmäßig ein Schwarm minderwertiger Persönlichkeiten, die, bis dahin durch die Gesellschaftsordnung niedergehalten, plötzlich die Bahn für ihre selbstsüchtigen Bestrebungen frei sehen. Ihre üppiges Gedeihen wird vor allem durch die Entleerung der Gefängnisse und die rasch aufeinander folgenden Gnadenerlasse bewirkt. »Stadelheim ist aufgehoben«, erklärte mir schon am 8. November vorigen Jahres ein Vertreter der bewaffneten Macht, mit dem ich zu verhandeln hatte. Vor allem rührten sich die gewerbsmäßigen Schwindler und Hochstapler, deren bedenkenfreie Gewandtheit es ihnen leicht macht, in der allgemeinen Verwirrung einige Zeit eine Rolle zu spielen und sich auf der Oberfläche zu behaupten. Mehr im Dunkel bleibt die Schar der Haltlosen und Verkommenen, der Betrüger, Gewohnheitsdiebe und Zuhälter, die sofort die Möglichkeit zu gewinnbringender Tätigkeit wittern, sich überall eindrängen und die sich reichlich bietende Gelegenheit zur Ernte rücksichtslos ausnutzen.
Diese Erfahrungen werden bei jeder grundstürzenden Umwälzung gemacht, und niemand wird leugnen wollen, dass auch wir ihnen nicht entgangen sind. Ich selbst habe mich davon überzeugen können, dass eine Anzahl der führenden wie der untergeordneten Persönlichkeiten aus der jüngsten Volksbewegung, die ich untersuchen konnte oder über die ich genauere Nachrichten erlangte, einer der hier geschilderten Gruppen angehörten. In einem gewissen Zusammenhange damit steht auch die starke Beteiligung der jüdischen Rasse an jenen Umwälzungen. Die Häufigkeit psychopathischer Veranlagung bei ihr könnte mit dazu beigetragen haben, wenn auch wohl hauptsächlich ihre Befähigung zu zersetzender Kritik, ihre sprachliche und schauspielerische Begabung sowie ihre Zähigkeit und Strebsamkeit dabei in Betracht kommen.
Welche Früchte die Herrschaft der aufgeführten Gruppen zeitigte, haben wir schaudernd selbst erlebt …[6]
Für Kraepelin ist die primitive Masse ein haltloses, emotional schwankendes, verführbares Konglomerat ohne Selbstzucht, nur geleitet von unbewussten Triebregungen, das darauf angewiesen ist, dass „echte“, hervorragende Führer ihm mit Zwang den rechten Weg in die Ordnung weisen. Diese, eine Elite, zeichnen sich in Pflicht und Verantwortungsgefühl, Selbstbeherrschung, Zielstrebigkeit und Vernunft aus, Eigenschaften, an denen es Psychopathen mangelt.
Anfang August 1919 spricht auf der Jahresversammlung des Vereins bayerischer Psychiater Eugen Kahn, ein weiterer Assistent Kraepelins, zum Thema „Psychopathen als revolutionäre Führer“.[7] Er fragt sich, warum Psychopathen, die in ihrem Wesen der oben beschriebenen Masse nahe stehen, revolutionsaffin handeln und warum sie führende Rollen bei der Revolution einnehmen können. Er hat aus 66 Beteiligten 15 der bekanntesten „Rädelsführer“ der Revolutionszeit ausgewählt und untersucht – manche erst nach ihrer Ermordung – und ordnet diese nun mit wissenschaftlichem Impetus in Typen ein: ethisch defekte Psychopathen, hysterische Persönlichkeiten, fanatische Psychopathen und Manisch-Depressive.
So ist der Kommandant der Roten Südarmee, Gustav Riedinger, „intellektuell durchschnittlich, verlogen … großsprecherisch“, in summa ein „haltloser, ethisch defekter Psychopath“.[8] Rudolf Egelhofer wird nach eingehender Ferndiagnose post mortem zu einem „antisozialen Psychopathen“.[9]
Erich Mühsam gerät wie Josef Sontheimer und Kurt Eisner ebenfalls nach Ferndiagnose zum „fanatischen Psychopathen“; letzterer sei „intelligent, erregbar, phantastisch … eitel bis zur Selbstüberschätzung, großsprecherisch, Phraseur, Poseur und empfindsam“ gewesen. Der Gymnasiallehrer und Reformpädagoge Dr. Ludwig Gurlitt, der in der Ministerialkommission für Unterrichtsreform tätig war, sei von „Rededrang, Ideenflucht“ geprägt, sei „erotisch, gewalttätig … von hypomanischer Konstitution“ und leide an „manisch-depressivem Irresein“.[10]
Die Botschaft ist klar: Nicht jeder harmlose Irre wird zum Revolutionär, aber jeder Revolutionär ist verrückt, ist minderwertig; für ihn gelten keine mildernden Umstände bei der Strafbemessung nach § 51 Strafprozessordnung.
Die, die alles daransetzten, die Revolutionäre zu stigmatisieren und ihnen eine Berechtigung als legitime bayerische Regierung abzusprechen, sind erfolgreich. Die Etikettierung als krimineller Abschaum, berechnend-geschäftstüchtige Wüstensöhne, als notorische Arbeitsscheue, als triebhafte Syphilitiker oder als feige verweiblichte Hysteriker wie Toller, der, wie man hämisch flüstert, mit gefärbten Haaren hinter einer Tapetentür verborgen sich seinen Häschern zu entziehen trachtete, werden die Revolutionäre bis heute nicht los.[11]
Noch ist die Geschichte der Psychiatrisierung der Münchner Räterepublikaner nicht geschrieben. Es könnten sich noch Unterlagen im Archiv des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie befinden. Der Verfasser dieser Zeilen hat sich in der Vergangenheit vergeblich darum bemüht, Auskünfte oder einen Zugang zum Archiv zu erhalten.
Das Archiv des Bezirks Oberbayern ist für die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing – Haar zuständig. Hier finden sich die Fälle des Studenten Ludwig Kröber, des Schieferdeckers Max Merl, des Handlungsgehilfen Ferdinand Wimmer, des Schriftstellers Dr. jur. Wilhelm Bethke und des Leutnants Eugen Karpf. Karpf war ursprünglich Mitglied der Republikanischen Schutztruppe und hat sich am 16. April 1919 dem militärischen Oberkommando der Räteregierung zur Verfügung gestellt. Er befindet sich vom 27. August bis zum 7. Oktober in Eglfing.
Schon vor dem Weltkrieg übt Bethke schneidende Kritik an Justiz und Bürokratie, prangert autoritäre Strukturen und Klassenjustiz an. Für seine Kollegen ist er zum Querulanten geworden.[12] Während der Räterepublik ist er Mitglied in der „Justizreformkommission“und verfasst mit Datum vom 10. April 1919 ein „Manifest zur radikalen sofortigen großen Rechts- und Sozialreform“.[13] In seiner Zeitung schreibt er: „Mitbürger in Stadt und Land: Nicht Weimar und noch weniger Bamberg bringen Euch Freiheit, sondern einzig und allein München. Wenn die weiße Garde siegt, so fallen wir leicht wieder zurück in die verhasste Sklaverei des Kapitalismus und Bürokratismus. Wir wollen aber frei sein und bleiben. Darum hoch die rote Armee!“[14]
Aus der Haft in Neudeck schreibt [Bethke] am 28. Mai an den Staatsanwalt einen in der älteren deutschen Revolutions- und Rechtsgeschichte vielleicht beispiellos mutigen Brief (Gerade ist er vom Landgerichtsarzt auf seinen Geisteszustand untersucht worden.): »Verschiedenen Herren der alten maroden, perversen Justiz wäre es über alle Maßen erwünscht oder recht, wenn der medizinische Gutachter mich für geisteskrank erklären würde. Auf einen solchen Dienst dürfen aber meine Feinde hier nicht zählen.« Er habe dem Gutachter genau dies alles gesagt, was er in seiner Zeitschrift geschrieben habe, »dass der alte deutsche Staatsbetrieb, voran die Justiz, die Hochschule der Heuchelei, Vergewaltigung und des Schwindels sei« und dass die meisten Juristen »selber gut daran täten, sich auf ihren Geisteszustand untersuchen zu lassen« eingedenk dessen, was er über ihre Tätigkeit und Tauglichkeit veröffentlicht habe. Man solle ihn deswegen ruhig nach dem Hochverratsparagraphen verfolgen, und wenn die in den Akten befindlichen Denunziationen dazu auch nicht ausreichen wollten: »Wenn auch Deutschland heutzutage allergrößten Mangel an Gummi hat, so ist es dennoch nicht verloren. Nur Ersatz her! Justitia weiß Rat und Hilfe. Sie hat Tausende von Paragraphen, welche dauerhafter und dehnbarer als Gummi sind … Heute, besonders in der Justiz, kommt es nicht mehr darauf an, ob irgendein Freiheits- und Kulturkämpfer auf krumme Art verschwindet.«[15]
Im Prozess klagt der Staatsanwalt erregt, Bethke habe seine Kollegen von der juristischen Zunft den räterepublikanischen Machthabern auf Gnade oder Ungnade ausliefern wollen. Er habe die „lebenslängliche Anstellung, die Unverletzbarkeit und Unabsetzbarkeit und die Pensionsberechtigung“[16] abschaffen wollen und vorgeschlagen, dass Volksbeauftragte die Richter einzusetzen hätten.
Das Gericht verurteilt den „streitsüchtigen Psychopathen und Haftquerulanten“ zu drei Jahren Zuchthaus. Bethke wird vom 21. Juni bis 12. September 1922 in der Irrenanstalt Eglfing „behandelt“, wird seitdem immer wieder psychiatrisiert und entkommt dem Irrenhaus erst Ende der 20er Jahre.
Ob sich in der ehemaligen Irrenanstalt, heute Isar-Amper-Klinikum München-Ost, noch Unterlagen psychiatrisierter Räterepublikaner befinden? Wenn noch ungehobene Quellen existieren, sollten sie studiert werden. Sie belegen, wie die Psychiatrie von ihren Anfängen bis in die jüngste Zeit unter dem übergreifenden Interesse eines staatlichen Ordnungswütens praktiziert.
Von der psychiatrischen Klassifizierung, die den Revolutionären jedes ethische Motiv abspricht, um sie als „gemeinschädliche Untermenschen“ kurz und bündig auszusondern oder gleich auszumerzen ist der Weg zur Idee der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ nicht weit.[17] Knapp zwei Dutzend Jahre später gelingt es, aus der Idee die Tat folgen zu lassen: Zur Anpassung, sei es aus rassischen oder ideologischen Gründen Unfähige werden großzügig unschädlich gemacht.
Nachbemerkung von Michael Backmund:
Bis heute wird der Reaktionär, Eugeniker, Nationalist und Kriegsbefürworter Emil Kraepelin in München u.a. als Namensgeber einer Straße geehrt. Wie unkritisch zum Beispiel die Münchner Universitäts-Klinik mit Kraepelin umgeht, zeigt ihre Web-Seite – dort ist kein Wort zur Instrumentalisierung von Medizin und Psychiatrie im präfaschistischen Kampf gegen den verhassten politischen Gegner mit pseudowissenschaftlichen Gutachten:
„Als Direktor der Königlich Psychiatrischen Klinik in München gründete Kraepelin die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie – das heutige Max-Planck-Institut für Psychiatrie. Nach viel Überzeugungsarbeit für seine besondere „Forschungseinheit“ und durch sein unermüdliches Engagement erhielt er dafür finanzielle Unterstützung von der Industrie. Krupp, Nobelpreisträger E. Fischer, die Deutsche Chemische Industrie und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft förderten ihn. Es wurde sein größtes, vollendetes Projekt, bevor er 1922 emeritiert wurde. Emil Kraepelin starb am 7. Oktober 1926 in München.
(…) Die aus der klinischen Anschauung und Beobachtung heraus entwickelte, immer wieder empirisch überprüfte und unter Berücksichtigung neuer Befunde und Erkenntnisse auch immer wieder geänderte Kraepelin’sche Systematik der psychiatrischen Krankheitsbilder ist unverändert gültig. Durch die weltweiten Bemühungen um die Operationalisierung der psychiatrischen Diagnostik – im Zusammenhang mit der ICD-Klassifikation (ICD-10) der WHO und den amerikanischen Diagnoseklassifikationen DSM-III und -IV) – hat die Nosographie und klassifikatorische Systematik Kraepelin’s in den letzten Jahren sogar wieder ganz besondere Bedeutung erhalten.“
_____________
Fußnoten:
[1]Thomas Szasz, zit. in: Roland Jaccard, Der Wahnsinn, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1983, 34.
[2]H.D. Heilmann, ehemaliges Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, war der erste, der darauf hingewiesen hat. Hans-Dieter Heilmann: Revolutionäre und Irre – die wahnsinnige Revolution und das normale Auschwitz. In: Schwarze Protokolle 14 vom November 1976, 2 ff. – Der zweite, der sich des Themas annahm, war Grubitzsch. Siegfried Grubitsch: Revolutions- und Rätezeit 1918/19 aus der Sicht deutscher Psychiater. In: Psychologie und Gesellschaftskritik 9/1985, 23 ff.
[3]Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Textausgabe in der jetzt geltenden Fassung mit Anmerkungen von Dr. jur. Wilh. Heinr. Winand, Amtsgerichtsrat in Bonn, Berlin 1913, 43.
[4]Münchener Medizinische Wochenschrift 34 vom 22.8.1919, 969, zit. in: Heilmann, a.a.O., 23.
[5]Monatsschrift für Kriminal-Psychologie, 12. Jg. 1921, 314, zit. in: Heilmann, a.a.O., 23.
[6]Emil Kraepelin: Die Wahrheit über die Revolution. In: Süddeutsche Monatshefte 9 vom Juni 1919, 177 f.
[7]Eugen Kahn: Psychopathen als revolutionäre Führer. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 52/1919, 90 ff. sowie Sonderdruck, Berlin 1919.
[8]A.a.O.
[9]Dr. med. Helenefriderike Stelzner meint schon früh, Egelhofer habe „den Sitz der Regierung zu einem Tempel des Bacchus und der Venus“ gemacht. Stelzner: Psychopathologisches in der Revolution, a.a.O., 396. – Die Räterepublikaner feierten Orgien, das Wittelbacher-Palais war ein Bordell. Stelzner: „Auf der einen Seite droht der Gorilla des Bolschewismus, zertritt ein grober Riesenstiefel Haus und Heimat, und auf der anderen Seite wiegen sich unter dem Schutz der Zensurfreiheit besonders pikant ausgefallene raffinierte Pärchen im Modetanz.“ A.a.O., 402. – Paul Busching, Professor an der Technischen Hochschule München, bezeichnet Egelhofer als „blutgierig, total ungebildet, eitel, tyrannisch, moralisch völlig haltlos und dabei gänzlich unfähig in den Angelegenheiten seines Amtes“. Busching: Die Revolution in Bayern. In: Süddeutsche Monatshefte 9/Juni 1919, 228.
[10]Kahn: Psychopathen, a.a.O. – „Fachvokabular richtet Blicke aus,und interpretierte Blicke erzeugen Verständnismuster, die als ideelle Verdopplung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zur Begründung ihrer eigenen Voraussetzungen herhalten müssen. Deshalb wird diesen Experten die Gesellschaft, die soziale Gemeinschaft zum Organismus mit kollektiven Gefühlen, mit einem Willen beseelt etc. Und krank werden kann dieser Organismus auch – und zwar an Leib und Seele. Dieser ‚gesellschaftliche Organismus‘ nun sei darauf angewiesen, dass alle seine Teile störungsfrei funktionieren. Jeder sei verantwortlich an der dauerhaften Reproduktion des ewig Gleichen der bestehenden sozialen und politischen Herrschaftsverhältnisse. Einem Krebsgeschwür vergleichbar wird folglich das Proletariat, werden die Arbeiter- und Bauernräte bzw. deren Führer, wenn sie diese Ordnung in Frage stellen. Eine Ordnung, die als scheinbar naturgegebene nur dann aufrechterhalten werden kann, wenn Krankheitskeime, wenn Verderbtheit von ihr ferngehalten werden kann – das weiß ja, das sollte jeder Mensch wissen.“ Grubitsch: Revolutions- und Rätezeit, a.a.O., 42.
[11]Toller war „ein Abgott kultivierter Frauen. Ein jüdischer Revolutionär und jung. Seiner Rede Zauberfluß, sein Händedruck und ach, sein Kuß! Toller war lungenleidend; an seinen Händen sollte Blut kleben: Glückes genug. Er hat sich dann, als die Rote Garde geschlagen wurde, feige verkrochen und sich die Haare rot gefärbt.“ Busching; Die Revolution, a.a.O.
[12]1914 gab Bethke Die Bürgerwehr. Wochenschrift für geistigen, politischen und sozialen Fortschritt mit den Beilagen Das Wespennest und Querulanten- und Richterwahn heraus.
[13]Staatsanwaltschaft beim Standgericht München, StAnw 1953, StAM.
[14]Der freie Mensch. Unabhängiges und parteiloses Spezialorgan zur Verteidigung der Menschenrechte, für wahre Freiheit und freie Wahrheit sowie für volkstümliches Recht und Gericht 8 vom 27.4.1919.
[15]Staatsanwaltschaft beim Standgericht München, StAnw 1953, StAM, zit. in: Heilmann, Revolutionäre und Irre, a.a.O., 9 ff.
[16]Staatsanwaltschaft beim Standgericht München, StAnw 1953, StAM.
[17]Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920.
Bestellung und weitere Informationen zum Buch:
Räte in München. Anmerkungen zum Umsturz und zu den Räterepubliken 1918/19 (edition AV, 19.90 Euro)
Kontakt und Bestellung: Fax.: 05060 – 9618448 oder editionav@gmx.net
Kurzbeschreibung:
Im November 1918 hatten sich die Repräsentanten eines längst überlebten Feudalismus in Baiern aus dem Staub gemacht. Arbeiterinnen und Arbeiter, Soldaten und Bauern hofften, dass nun die neue Zeit ihnen nicht nur bürgerliche Freiheiten, sondern auch die Verbesserung ihrer trostlosen wirtschaftlichen Lage bringen werde. Eine Rätedemokratie jenseits der traditionellen Parteien sollte, anders als in einem formaldemokratischen Parlament, die direkte Einflussnahme auf die Gestaltung des Gemeinwesens garantieren.
Die Nutznießer der alten Zeit wollten zwar auf den König verzichten, nicht aber auf die Institutionen einer bürgerlichen Republik, in der sie ihre Privilegien behalten konnten. Am Ende setzten sie sich durch. Mit Geld, mit Lügen, Intrigen, mit einer gezielten Propaganda und zuletzt mit Waffengewalt.
Die Aufsätze in Gerstenbergs Buch lauten: Raus auf die Straße! Von der symbolischen Geste zur Tat ‖ »Wo kommen Sie her? Wer ist die Dame? Was wollen Sie?« Wie ein mutiger Pazifist einmal auf einen ängstlichen Kriegsminister traf ‖ Dunst, Ausstreuungen, Stimmungsmache. Warum unter der Regierung Eisner und während der Räterepubliken die bessere Propaganda siegte ‖ Lammesgeduld und Revolutionsfurien. Die bessere Hälfte des Umsturzes ‖ Liaba a Räterepublik ois wia gar koa Gfrett net! Lachen links und Grinsen rechts ‖ Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Kirche im Widerstand ‖ Auflehnung ist Wahnsinn. Wie aus Revolutionären Spinner, Sittenstrolche und Verbrecher wurden
Ein Glossar mit Kurzbiografien beendet das Buch.
Comments