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«Es leben Eisner und die Weltrevolution!» von Michael Backmund

Updated: Oct 21, 2022





Die offizielle Geschichtsschreibung wird von den Siegern definiert und mit den herrschenden Verhältnissen zementiert und fortgeschrieben. So verwundert es kaum, dass viele Menschen den Freistaat Bayern noch heute für eine Erfindung der CSU halten. Am 80. Jahrestag der Räterevolution forderten rund 1000 DemonstrantInnen vor der Bavaria auf einem Transparent „Kurt Eisner in die Ruhmeshalle!“ Das war 1998. Dort „angekommen“ ist er bis heute nicht. Michael Backmund erinnert an den brillanten Journalisten, bedeutenden Publizisten, Vordenker eines demokratischen Sozialismus, couragierten Kriegsgegner und Revolutionär Kurt Eisner und er wirft Schlaglichter auf die Zeit der Räterevolution, die auch in „Anarchie & Utopien“, der ersten Folge von Weckerswelt TV eine wichtige Rolle spielt.

„Bayern ist fortan ein Freistaat.“ Noch in der Nacht hatte Kurt Eisner einen Aufruf in den Münchner Neuesten Nachrichten abdrucken lassen. Wer keine Zeitung las oder selbst am Tag zuvor nicht dabei gewesen war, konnte sich seit den frühen Morgenstunden des 8. November 1918 an den Litfaßsäulen der Stadt informieren. Auf roten Plakaten war dort die Proklamation des neuen Arbeiter- und Soldatenrates zu lesen: „Um nach jahrelanger Vernichtung aufzubauen, hat das Volk die Macht der Zivil- und Militärbehörden gestürzt und die Regierung selbst in die Hand genommen (…) Die Dynastie Wittelsbach ist abgesetzt. Hoch die Republik!“ Und an den beiden Türmen der Münchner Frauenkirche hingen große rote Fahnen.

Der Freistaat ist also keine Erfindung der CSU, sondern des Sozialisten und ersten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner und vieler tausender Münchner Revolutionäre und Revolutionärinnen. Wie jede Revolution begann der Umsturz der verhassten Ordnung mit einem Auflauf: „’Es lebe der Friede!’, schrien in diesem Augenblick um mich herum die Leute. ’Frie-ie-iede!’ pflanzte sich fort und scholl weiter. Und brausend riefen alle: ’Hoch Eisner! Hoch die Weltrevolution!’ Ungefähr eine Minute war es still.“ (…) Dann schrie Fechenbach: ’Kurt Eisner hat gesprochen. Es hat keinen Zweck mehr, viele Worte zu verlieren! Wer für die Revolution ist, uns nach!’ Der Marsch war unaufhaltsam. Die meisten (…) lachten und schwatzten, als ging’s zu einem Fest.“ So beschrieb der Schriftsteller Oskar Maria Graf, Sympathisant und literarischer Chronist der Revolution, in seinem Roman „Wir sind Gefangene“ die Ereignisse des 7. November 1918. Zehntausende Menschen auf der Münchner Theresienwiese hatten genug von der Monarchie, von Hunger, Krieg und Ausbeutung.

100 Jahre hat es gedauert, bis eine erste größere Ausstellung im Münchner Stadtmuseum an den Mitbegründer des Freistaats Bayern erinnerte. Die beiden KuratorInnen Ingrid Scherf und Günther Gerstenberg verwiesen in ihrer vielschichtigen Ausstellungs-Erzählung auf die Mühen der Ebene, die harte Arbeit von Vielen, das Prozesshafte und Kollektive, das einer gelungenen Revolution vorausgeht. Akribisch arbeiten sie in der Schau „Revolutionär und Ministerpräsident – Kurt Eisner (1867-1919)“ den über Jahrzehnte gewachsenen intellektuellen Einfluss des Publizisten und Aktivisten Eisner auf die politische Debatte sowie die strategische Orientierung der radikalen Linken heraus: Aufgeräumt wird mit zahlreichen Zuschreibungen und Verengung der historischen Perspektive – unhaltbare Stereotypen und Klischees vom „weltfremden Literaten“ oder „gescheiterten Träumer“, die sich hartnäckig bis heute halten.


















Flugblatt mit der Proklamation der Bayerischen Republik durch den provisorischen Arbeiter- und Soldatenrat vom 8. November 1918, gez. Kurt Eisner, © Archiv der Münchner Arbeiterbewegung



„Die Revolutionierung der Köpfe“

Als „die blankeste Feder des deutschen Sozialismus“ bezeichnete der prominente und angesehene Journalist Maximilian Harden seinen Kollegen Eisner bereits während der Kaiserzeit. Eine Glosse aus seiner spitzen Feder brachte Eisner bereits 1898 einen Gefängnisaufenthalt im Berliner Zuchthaus Plötzensee ein. Nach Ablauf seiner Haftstrafe holte ihn Wilhelm Liebknecht, Chefredakteur des Vorwärts, in die Redaktion des SPD-Zentralorgans. Nach dem Tod Liebknechts zwei Jahre später bestimmte Eisner maßgeblich den Kurs der Zeitung. Sehr zum Missfallen des rechten Parteiflügels. Schonungslos kritisierte Eisner die offizielle Parteiideologie und ihre „Politik des demonstrativen Nichtstuns“. Sein Vorwurf, der sich nur wenige Jahre später bestätigen sollte: Die SPD-Führung wolle überhaupt nicht konsequent mit dem herrschenden System brechen. Eisner dagegen orientierte auf konkrete Handlungen für einen beständigen Prozess der „Revolutionierung der Köpfe“, eine demokratische Bildungskonzeption für die Emanzipation der Menschen. Dafür setzte er auf eine offensive Streitkultur in der Sozialdemokratie und einen konsequenten Internationalismus gegen die imperialistische Kolonial- und Kriegspolitik des deutschen Kaiserreiches. 1905 musste er das Zentralorgan der SPD verlassen. Zum Abschied organisierte er noch gemeinsam mit dem französischen Sozialisten Jean Jaurès eine Friedensdemonstration in Berlin gegen die Politik Kaiser Wilhelm II. in Marokko. Er arbeitete weiter als Journalist und leistete verstärkt praktische politische Bildungsarbeit.

1910 zieht Eisner nach München und wird Landtagskorrespondent der Münchner Post. Seine Integrität zeigt sich vielleicht am deutlichsten am Umgang mit seinen eigenen Fehlern: Bei Ausbruch des 1. Weltkrieges lässt sich Eisner im ersten Moment von der Propaganda der Reichsleitung der SPD täuschen. Diese verbreitet „Fakten“ von der angeblichen Aggressivität Russlands und der Notwendigkeit eines „Verteidigungskrieges“. Längst hat die SPD-Führung ihren „Burgfrieden“ mit dem Kaiserreich geschlossen und wird die Kriegskredite bewilligen. Anders Eisner: Er zweifelt und stürzt sich in ein umfangreiches Aktenstudium, revidiert seine Meinung bereits im August 1914 und arbeitet seitdem unermüdlich gegen die Kriegspolitik des Deutschen Reiches. Im Februar 1915 schreibt er an SPD-Reichstagsabgeordnete und verurteilt ihre Unterstützung des angeblichen Verteidigungskrieges: „Das Gegenteil ist schon jetzt über alle Zweifel erwiesen! Dieser Krieg ist ein deutscher Expansionskrieg.“ Schnell wird Eisner zum Wortführer der Antikriegsopposition in Bayern und im Mai 1917 gründet er die Münchner Ortsgruppe der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD). Immer stärker lehnen sich die jungen Arbeiterinnen und Arbeiter, darunter auch verwundete Kriegsheimkehrer, gegen die Bevormundung der SPD und ihre Kriegsunterstützung auf. Im Januar 1918 legt ein Streik die Münchner Rüstungsbetriebe vorübergehend lahm. Eisner wird als einer der Streikführer verhaftet und kommt erst am 18. Oktober 1918 als nominierter Spitzenkandidat der Münchner USPD aus der Untersuchungshaft frei. Unermüdlich und unerschrocken spricht er weiter auf Versammlungen und öffentlichen Kundgebungen über den Frieden und die Notwendigkeit einer Revolution. Bereits am 3. November redet Eisner auf der Theresienwiese. Anschließend ziehen Tausende zum Gefängnis Stadelheim und befreien politische Gefangene.



„Die Reaktion marschiert!“: Ministerpräsident Kurt Eisner in Begleitung seiner Frau und dem Sekretär Felix Fechenbach auf der Rätedemonstration in München am 16. Februar 1919, Fotografie von Franz Hartl, © Archiv der Münchner Arbeiterbewegung


So war die Münchner Revolution Ausdruck einer konsequenten Anti-Kriegs-Politik. Von der Theresienwiese führte die gewaltige Demonstration am 7. November 1918 zu den Kasernen und Lazaretten in München. Die Soldaten schlossen sich der Revolution an. Die Menschen hatten genug von Hunger und Armut und vom Sterben für das Vaterland.


Der König wird davongejagt

König Ludwig III. flanierte an jenem 7. November auf seinem täglichen Nachmittagsspaziergang durch den Englischen Garten – bis ihm mit bayerischem Charme ein Arbeiter unmissverständlich erklärte: „Majestät, schaugn’S dass hoamkumma, sunst is’s g’fehlt aa“. Abends hatte der königliche Chauffeur bereits die Fronten gewechselt und Ludwig III. musste sich in einer gemieteten Limousine nach Schloss Wildenwarth im Chiemgau kutschieren lassen. In der Nähe von Rosenheim kam der Wagen von der Straße ab und landete in einem Kartoffelacker – nur widerwillig hat ihn ein Bauer wieder herausgezogen. Am nächsten Morgen erwachte Ludwig III. als thronloser Ex-Monarch und jammerte: „Dass man mir aber auch gar nichts gesagt hat, wie es steht; dass man mich gar nicht über die Lage informiert hat! Hab ich denn gar niemand, der sich um mich hätte annehmen können?“ So endete die 738 Jahre dauernde Herrschaft der Wittelsbacher Dynastie in Bayern.


 Wie Hilde Kramer fast noch den Umsturz verpasst hätt

Die junge Revolutionärin Hilde Kramer hätte den Umsturz fast verpasst: „Ich war in der Revolutionsnacht am 7. November fast dauernd auf der Straße. Erst war am Nachmittag auf der Theresienwiese eine gewaltige Volksversammlung, auf der sich die beiden sozialistischen Parteien einten (…) Aber die Sache verlief im Sande. Eine Gewerkschaftsdemonstration wälzte sich pomadig durch die Straßen, nichts von revolutionärem Aufstand. Wir folgten bis zum Friedensengel, dann gaben wir die Sache verzweifelt auf und wollten nach Hause gehen“, schrieb Hilde Kramer im Alter von 18 Jahren voller Enthusiasmusan ihre Berliner Freundin Wise Kaetzler.

Lautsprecheranlagen gab es damals noch nicht und so schlossen sich zunächst zehntausende Münchner und Münchnerinnen der „falschen“ Demonstration von Auers SPD an. Hilde Kramer hat, wie man in ihrem Brief vom 18. November weiterlesen kann, die Räterevolution dann trotzdem nicht zu Hause verschlafen: „In der Türkenstraße war die Luft noch erfüllt vom Gas der Bomben, die die Offiziere auf Soldaten und Volksmenge geworfen hatten. Wir erfuhren dann, dass schon fast alle Münchner Soldaten gemeutert hätten (…) Wir schlossen uns an der Türkenkaserne einem Soldaten an, der zur Bildung des Soldatenrates ging. Als ich das ’Es lebe die Republik! Es lebe die Revolution!’ hörte, da hatte ich das Gefühl: Diese Menschen sind fähig, die Revolution zu machen! (…) Gesprungen & gejubelt haben wir, und in die Arme sind wir uns gefallen in jener Nacht.“

In seinem Buch „Der Anfang, der ein Ende war“ beschreibt Ralf Höller den unblutigen Umsturz: „Um 21 Uhr sind alle Kasernen in der Hand der Aufständischen. Eine Stunde später haben die Revolutionäre auch alle Ministerien, das Polizeipräsidium, den Bahnhof, die Post, das Telegrafenamt und die wichtigsten Zeitungsredaktionen besetzt. Eisner hat jetzt keine Zeit zu verlieren. Bevor von irgendeiner Seite Maßnahmen gegen die Revolution ergriffen werden können, will er vollendete Tatsachen schaffen. Er begibt sich zum Matthäserbräu am Stachus. Dort tagen bereits die neu gebildeten Arbeiter- und Soldatenräte, die ihn stürmisch begrüßen. Sofort wählen sie Eisner zu ihrem Vorsitzenden. Unmittelbar darauf gehen alle Versammelten zum Landtag und besetzen dort den verwaisten Sitzungssaal. Eisner hält eine kurze Ansprache. Anschließend lässt er sich zum Ministerpräsidenten des Landes Bayern ausrufen.“

Schon damals tobte der Kampf gegen die patriarchale Unterdrückung und sexualisierte Gewalt gegen Frauen, aber auch gegen die Machos und den Sexismus in den eigenen Reihen. Hilde Kramer musste sich als Schreibkraft bei den Räten behaupten. Das ist ihr gelungen: Schon als 18-Jährige unterschrieb sie ein Flugblatt und war Gründungsmitglied der von Erich Mühsam ins Leben gerufenen „Vereinigung Revolutionärer Internationalisten Bayerns“ und trifft im Januar 1919 in Berlin Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

 „Männer- wie Frauenversammlungen waren überfüllt, aber ihr Verlauf war ein sehr verschiedener. In ersteren herrschte Tabaksqualm, Bierdunst, Lärm, Pfeifen und Schreien; den durch den Krieg verrohten Männern gebrach es an Selbstbeherrschung, Anstand und dem erforderlichen Denkvermögen. Anders die Frauen. Sie zeigten großes Interesse“, erinnerte sich die Feministin Lida Gustava Heymann: Auf dieEmanzipation und den Verfall der guten Sitten reagierte besonders die Kirche: „Katholische Geistliche faselten von der drohenden Gefahr freier Liebe, freier Ehe, dem illegitimen Kinde.“ Nach der Rede eines Geistlichen habe eine Stallmagd „Er hat ja selbst drei Uneheliche“ laut in die Versammlung gerufen.



Kurz vor seiner Ermordung am 21. Februar 1919: Ministerpräsident Kurt Eisner in Begleitung seiner Frau und dem Minister für Soziale Angelegenheiten, Hans Unterleitner, auf dem Weg zur Rücktrittserklärung im Landtag. © Archiv der Münchner Arbeiterbewegung


Die Kraft des Gedankens, sich in Wirklichkeit zu verwandeln

„Die hundert Tage der Regierung Eisner haben mehr Ideen, mehr Freuden der Vernunft, mehr Belebung der Geister gebracht als die 50 Jahre vorher.“ In seiner Gedächtnisrede drückte der Schriftsteller Heinrich Mann am 16. März anlässlich der Trauerfeier für Kurt Eisner im Münchner Odeon aus, was der hagere Mann mit Nickelbrille, zerzaustem Haar und Vollbart für die Münchner ArbeiterInnen und fortschrittlichen Intellektuellen bedeutete: „Sein Glaube an die Kraft des Gedankens, sich in Wirklichkeit zu verwandeln, ergriff selbst Ungläubige.“ Rund 100 000 Menschen hatten bereits die Beerdigung von Kurt Eisner am 26. Februar 1919 in eine Manifestation für die Ideen der Räterevolution, für eine gerechtere Gesellschaft ohne Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung verwandelt.

Ein Ministerium zur Liquidierung des Krieges

Fünf Tage zuvor hatte der völkisch-nationalistische Leutnant und Jura-Student Anton Graf Arco auf Valley vor dem Palais Montgelas in der damaligen Promenadestraße Kurt Eisner erschossen. In der Tasche des Toten lag das Manuskript seiner Rücktrittsrede als Ministerpräsident nach der verlorenen Wahl zum Bayerischen Landtag: „Wir glauben, dass die Räte sich für die Schaffung einer tätigen Demokratie als unentbehrlich erweisen werden. Das Kriegsministerium hat sich in ein Ministerium zur Liquidierung des Krieges gewandelt. Die Beseitigung aller Erscheinungen, die unter dem Begriff Militarismus zusammengefasst werden, wurde durchgeführt. (…) Es wurde eine Amnestie durchgeführt: für politische Verbrechen und Vergehen trat ausnahmslos Begnadigung ein. Die sozialpolitisch wichtigste Tat war die Proklamierung des 8-Stunden-Tages“, brachte Eisner für seine letzte, ungehaltene Rede zu Papier. Die Bilanz der 105-tägigen Regierung Eisner kann sich sehen lassen. Dazu kam das Frauenwahlrecht, die Abschaffung der Monarchie und der Sonntagsarbeit, die Säkularisierung der Schulen und die Einführung von Religion als Wahlfach, die Abschaffung der Adelstitel, die Einführung von Betriebsräten und vor allem auch die Reform des „Gesinderechts“ und damit die Abschaffung der faktischen Leibeigenschaft des Hauspersonals.

Mehr Zeit wollten ihm seine Feinde nicht lassen. Kurt Eisner hasste den Krieg und den Militarismus. Und deshalb hassten ihn alle reaktionären Kräfte der Kaiserzeit. Aristokraten, Bankiers, Industriellen, Kolonialpolitikern und rechtsradikalen Freicorps galt er als „vaterlandsloser Geselle“. Seit Monaten hatte er antisemitische Hassbriefe und Morddrohungen erhalten. Zu seinem Sekretär Felix Fechenbach sagte Eisner kurz bevor die Schüsse ihn trafen: „Man kann einem Mordanschlag auf die Dauer nicht ausweichen, und man kann mich ja nur einmal totschießen.“ Nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 in Berlin wurde nur fünf Wochen später der dritte Revolutionär getötet, der dem erneuten „Burgfrieden“ der alten militaristischen Kräfte und der SPD zur Liquidierung der Räterevolution im Wege stand.

Der Leichenzug für Kurt Eisner zog sich kilometerlang durch die Straßen Münchens. Über dem Ostfriedhof kreiste ein Flugzeug und zog ein Transparent hinter sich her: „Graf Arco – verschont ihn nicht.“ Das sah der Staatsanwalt im Prozess gegen den Eisner-Mörder ganz anders: „Wahre, tiefe, innerlich wurzelnde Vaterlandsliebe war es, die den Angeklagten zu seiner Tat veranlasste.“ In der Nacht vor dem Attentat schrieb der junge Graf und Antisemit: „Ich bin treuer Monarchist, Katholik. Ich hasse die Juden!“ Anton Graf Arco wurde bald begnadigt. Hinter seinem Attentat stand die präfaschistische, nationalistische und antisemitische Thule-Gesellschaft. Den Nachwuchs für den reaktionären Geheimbund rekrutierte Rudolf Heß – der spätere „Stellvertreter des Führers“. So zieht sich die entpolitisierende Einzeltäterthese-Geschichtsschreibung von Polizei und Politik seit der Ermordung des Sozialisten und ersten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner über das Oktoberfestattentat, die Mordserie des NSU bis zum rassistischen Münchner Attentäter vom Olympiadorf im Jahr 2016.

Nach der Ermordung von Kurt Eisner und der blutigen Niederschlagung der Münchner Räterepublik Anfang Mai 1919 verkam Bayern zur reaktionären „Ordnungszelle“. In diesem Klima konnte die NSDAP stark werden und der Faschismus siegen. Bis heute erhält der Journalist, Denker und Aktivist Kurt Eisner von staatlicher Seite und in einer breiteren Öffentlichkeit nicht die politische Anerkennung, die ihm und seinen WeggefährtInnen zusteht. Viele Fragen, Diskussionen und Ideen der Münchner Rätezeit sind heute wieder oder noch immer hoch aktuell. Das mag erschrecken, aber vor allem macht es Mut für einen neuen An -und Auflauf – und ohne den gibt es keine Revolution!


Michael Backmund

 Ausgewählte Buchtipps zur Münchner Räterevolution:

*  „Kurt Eisner: Sozialismus als Aktion, Ausgewählte Aufsätze und Reden“, Hrsg. Von Freya Eisner, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1975 (nur antiquarisch erhältlich)

* „Kurt Eisner, 1867-1919, eine Biographie“, Bernhard Grau, C.H.Beck, 2017

* „Steckbriefe gegen Eisner, Kurt u. Genossen wegen Landesverrat. Ein Lesebuch über Münchner Revolutionärinnen und Revolutionäre im Januar 1918, (Hg.) Cornelia Neumann, Günther Gerstenberg, Verlag Edition AV, 310 Seiten, 2017, 24,90 €

* Hilde Kramer: Rebellin in München, Moskau und Berlin, Autobiographisches Fragment. 1900-1924, PAMPHLETE NR. 27, BasisDruck Verlag, 264 Seiten, 28 Abbildungen, 16,80 €, Berlin 2011

* „Brotmarken und rote Fahnen – Frauen in der bayerischen Revolution und Räterepublik 1918/19“, Christiane Sternsdorf-Hauck, ISP-Verlag 2008, 160 Seiten, 16,80 €.

* Der Anfang, der ein Ende war. Die Revolution in Bayern 1918/19, Ralf Höller, Aufbau Verlag, 298 Seiten, Berlin, 1999.

* „Erich Mühsam: Wir geben nicht auf!“ Texte & Gedichte. Günther Gerstenberg, edition monacensia im Allitera- Verlag 2003, 215 Seiten, 14,90 €.

* „Wir sind Gefangene“ von Oskar Maria Graf, Roman von 1927,

dtv-Ausgabe, 532 Seiten.

* „Eine Jugend in Deutschland“ von Ernst Toller, Rowohlt, 167 Seiten,

5,90 Euro.

Ein Hörtipp:

Zeitzeugen erzählen: 100 Jahre Räterepublik in Bayern

Die Geschichte der bayerischen Revolution von 1918/19 konnte bislang nur anhand schriftlicher Quellen erzählt werden: anhand von Polizei- und Gerichtsakten, offizieller Dokumente und Berichte sowie literarischer Schilderungen. Originaltöne von Protagonisten der damaligen Ereignisse gab es fast keine – dachte man. Doch eine Gruppe junger Filmemacherinnen und Aktivisten hat 1988 die letzten noch lebenden Zeitzeugen von Revolution, Räterepublik und weißem Terror interviewt und diese Gespräche auf Videos festgehalten. 

Lange waren diese Aufnahmen vergessen, fast wären sie unbrauchbar geworden, doch vor Kurzem konnten sie restauriert und digitalisiert werden. Vier Frauen und vier Männer aus der Münchner Arbeiterschaft, die die Rätezeit teils als Kinder, teils als jugendliche Aktivisten erlebt haben, erzählen ihre persönlichen Erlebnisse – von Armut und Hunger im Krieg, von Widerstand und Ausgrenzung, vom Sturm der Münchner Kasernen Anfang November 1918, der Ausrufung des Freistaates Bayern, der Revolutionszeit, der Ermordung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner und von den Kämpfen bei der Niederschlagung der Räterepublik und den anschließenden Massakern der Freicorps-Soldaten. Ihre Schilderungen sind einzigartige Zeitdokumente eines gesellschaftlichen Aufbruchs, dem Bayern nicht nur die Bezeichnung „Freistaat“ verdankt. 100 Jahre nach der bayerischen Revolution sind sie nun erstmals im Radio zu hören.

Ein Radiofeature von Thies Marsen und Michael Backmund:

https://www.br.de/radio/bayern2/zeitzeugen-erzaehlen-wie-die-revolution-in-muenchen-war-100.html

Als Podcast und in der Bayern 2 App verfügbar

Die Interviews mit den Zeitzeug*innen sind 1988 in kollektiver Zusammenarbeit von Ulrike Bez, Petra Gerschner und Michael Backmund entstanden, um die Berichte und Erfahrungen der wenigen noch lebenden Augenzeugen der Münchner Räterevolution zu bewahren und weiterzugeben.

© All rights reserved: Michael Backmund, Ulrike Bez, Peider A. Defilla, Petra Gerschner, München 1988/2018

Redaktion: Michael Backmund, Petra Gerschner

Produktion: B.O.A. Videofilmkust München

Produzent: Peider A. Defilla

Als filmische Dokumente sind die Interviews in voller Länge im Lernforum des NS-Dokumentationszentrum München kostenlos zu sehen und zu hören (Max-Mannheimer-Platz 1, 80333 München, Dienstag – Sonntag 10.00 – 19.00 Uhr).

Informationen zum Dokumentarfilm „Es geht durch die Welt ein Geflüster“ – ZeitzeugInnen der Münchner Revolution & Räterepublik  1918/19 berichten

(Regie: Ulrike Bez 1989/2018) unter www.esgehtdurchdiewelteingefluester.de


























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